Wenn Symptome falsch gelesen werden

In der medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung begegnet mir immer wieder ein Muster, das auf den ersten Blick unscheinbar wirkt, aber große Folgen haben kann:
Gleiche Symptome werden unterschiedlich eingeordnet – je nachdem, ob sie von einer Frau oder einem Mann geschildert werden.

Frauen erhalten häufiger psychosomatische oder psychische Erklärungen für körperliche Beschwerden.
Männer dagegen werden eher körperlich diagnostiziert – selbst dann, wenn seelische Belastungen eine zentrale Rolle spielen.

Beides ist problematisch. Und beides schadet.

 

Wenn körperliche Symptome vorschnell „psychisch“ erklärt werden

In meiner Praxis habe ich mehrfach Patientinnen erlebt, deren körperliche Beschwerden über lange Zeit als „Stress“, „emotional“ oder „psychosomatisch“ eingeordnet wurden.
Nicht, weil sorgfältig ausgeschlossen worden wäre, dass es organische Ursachen gibt – sondern weil diese Möglichkeit zu früh verworfen wurde.

Für viele Betroffene bedeutet das:

ein langer Weg bis zur richtigen Diagnose

das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden

Zweifel an der eigenen Wahrnehmung

und nicht selten eine Verschlechterung der Symptome

Besonders gut belegt ist dieses Muster bei Schmerzen und bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Frauen erhalten hier häufiger beruhigende oder sedierende Medikamente, während körperliche Abklärungen später oder gar nicht erfolgen.

 

Männer: körperlich behandelt, seelisch übersehen

Die andere Seite dieser Medaille betrifft Männer.
Auch sie erleben eine Form von Fehleinordnung – nur in die entgegengesetzte Richtung.

Männer bekommen bei ähnlichen Beschwerden häufiger Schmerzmittel oder somatische Diagnosen.
Psychische Belastungen, depressive Symptome oder Angst werden seltener erfragt, seltener benannt und seltener diagnostiziert.

Das passt zu einem tief verankerten Rollenbild:
Männer gelten als „robust“, „belastbar“, „nicht so emotional“.

Die Folgen können gravierend sein:

Depressionen bleiben länger unerkannt

emotionale Not wird körperlich behandelt

Hilfe wird später gesucht

schwere Verläufe werden wahrscheinlicher

Dass Männer trotz geringerer Diagnoseraten eine deutlich höhere Suizidrate haben, ist kein Zufall – sondern auch Ausdruck dieser Dynamik.

 

Woher kommen diese Unterschiede?

Es geht hier nicht um „schlechte Medizin“ oder individuelles Fehlverhalten.
Vielmehr wirken gesellschaftliche Vorstellungen, die wir alle gelernt haben – oft unbewusst:

Frauen gelten traditionell als emotionaler, empfindlicher, „anfälliger“

Männer als stark, kontrolliert, funktional

Weibliche Beschwerden wurden historisch lange unter dem Begriff „Hysterie“ zusammengefasst

Männliche Verletzlichkeit wurde tabuisiert

Diese Erzählungen sind alt.
Aber sie wirken bis heute – in Gesprächen, in Diagnosen, in Entscheidungen.

 

Was wir brauchen

Aus therapeutischer Sicht braucht es vor allem eines: ein genaueres Hinschauen.

Das bedeutet:

gleiche Aufmerksamkeit für alle Symptome

weniger „typisch Mann“ oder „typisch Frau“

offene Gespräche statt vorschneller Einordnungen

Bewusstsein dafür, wie historische Rollenbilder heutige Diagnostik beeinflussen

Psychische und körperliche Gesundheit lassen sich nicht sauber trennen.
Und sie lassen sich schon gar nicht sinnvoll nach Geschlecht sortieren.

 

Falsch eingeordnet zu werden ist nicht nur medizinisch problematisch – es ist auch emotional belastend.
Es untergräbt Vertrauen, verunsichert und kann dazu führen, dass Menschen sich selbst nicht mehr ernst nehmen.

 

Eine geschlechtersensible, offene und differenzierte Sicht auf Symptome ist kein „Luxus“.
Sie ist Voraussetzung für gute Versorgung – für alle.

 

 

Quellen: 

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